Anthroposophen unter "Querdenkern". Was verbindet sie mit Steiner? Eine Nachprüfung

 

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Die von Rudolf Steiner (1861-1925) begründete Anthroposophie wird derzeit  als eine der geistigen Grundlagen für die „Querdenken“-Bewegung ausgemacht. Es heißt dann etwa:

Rassismus und Antisemitismus sind in der Lehre von Rudolf Steiners tief verwurzelt. Und eine Nähe zum Nazismus ist bis heute nicht wirklich aufgearbeitet...

"Romantisches Denken ist verknüpft mit dem Anliegen, das Affekt- und Gefühlvolle dem Verstandesmäßigen, dem ‚rationalistischen Denkstil‘, nicht länger unterzuordnen"...

Das Ablehnen von Impfungen gehört zu den Grundlagen anthroposophischer Medizin.

Corona-Proteste: Schnittmengen zwischen den beteiligten Milieus“ / Telepolis 26.12.21

Vorweg: Ich bin kein Steinerianer. Dennoch: die zitierten Urteile über Steiner bedürfen der Korrektur. Sie entsprechen einem gängigen Steiner-Bild, sind aber einseitig. Die Nachprüfung an seinen Schriften und Äußerungen ergeben eine komplexere Sicht. 

Für mich persönlich ist die Auseinandersetzung mit Steiners Werk und seinen Wirkungen ein lange aufgeschobenes Desiderat. In meinem Buch "Okkultismus", Mainz/Stuttgart 1988, habe ich ihn nur kurz und abschätzig erwähnt (S. 130). Von anthropsophischen Lesern wurde ich damals aufgefordert, mich näher mit Steiner zu befassen und und über ihn zu schreiben. Dies ist nicht geschehen. Die aktuelle Diskussion über seinen Einfluss in der "Querdenkenbewegung" war der Anlass, mich wieder mit Steiner zu beschäftigen. Ich kann hier aber nur einige Aspekte seines Werkes -  in meiner Sicht - aufnehmen. Dabei sind mir als religionswissenschaftlich orientierter Theologe und Philologe der Bezug auf Texte und ihre Auslegung wichtig. Ich gehe im Rahmen dieses Aufsatzes  aber kaum auf ihre historische Einordung in Steiners Biograpie ein, obwohl das bei einer Interpretation seiner Werkes auch berücksichtigt werden sollte. 

Was ich hier biete, ist eine "Tour d´Horizon" durch Aussagen Steiners, die sich in Beziehung zu aktuellen Fragestellungen setzen lassen. 

Gegenüber der Erstfassung wurde der Text durch weitere Vertiefung in Steiner-Schriften und Leser-Kritiken mehrfach überarbeitet und ergänzt. (Danke für einige zutreffende Hinweise, die ich aufgenommen habe!)

Steiners Erkenntnisweg – Rationales Denken und hellseherische Schau

Steiner baut auf den Naturwissenschaften auf, will sie aber durch seine Art von Schau ergänzen. Auch rationales "Denken" spielt für ihn eine zentrale Rolle: „Unseren Verstand, unsere Vernunft anzustrengen, unseren Wahrheitssinn genügend anzustrengen, ist uns vielleicht unbequem, aber wir müssen uns dieser Unbequemlichkeit aussetzen.“ (Gesamtausgabe=GA, [digital verfügbar], Band 241, S. 43) 

Die "Erkenntnis höherer Welten" ergänzt das rationale Denken durch Imagination, Intuition, Inspiration und Vision - sie werden durch Meditation erworben. Das sind eher religiöse und künstleriche „Erkenntnisweisen“  als naturwissenschaftliche. Sie dürften aber bei genialen Naturwissenschaftlern auch eine Rolle gespielt haben. Steiner war selbst künstlerisch tätig und an allen Kunstformen interessiert. In seiner Ästhetik wollte er denkerische und künstlerische Tätigkeiten zusammenführen. 

https://www.erziehungskunst.de/artikel/rudolf-steiner-war-auch-ein-kuenstler/

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Das erste, nach Plänen von Steiner ab 1913 erbaute Goetheanum (1922 abgebrannt): Versammlungs-, Vortrags- und Theatersaal, Kultraum. Symbolisch stellt es im Äußeren und Inneren die miteinander verbundene materielle und geistige Welt sowie ihre Entsprechung im Menschen dar, ebenso den "Schulungs-/Entwicklungsweg" des Menschen nach Steiner (Quelle: Screenshot aus dem Video: https://goetheanum.tv/programs/das-erste-goetheanum-als-bild-des-schulungswegs ). Steiner selbst zum Bau: GA 194, SS. 175 ff.
 

Steiners Erkenntnistheorie ist durchaus reflektiert, auch wenn man den etwas abrupt wirkenden Sprung in jenseitige Spären nicht nachvollziehen möchte. Erkenntnistheorie war ein Zentralthema seines Denkens. ("Philosophie der Freiheit" 1893/1918)
 
Mit seinen Einblicken in die „geistige Welt“ will Steiner den Materialismus der naturwissenschaftlichen Weltsicht überwinden und naturwissenschaftliche Erkenntnisse bereichern. Ein Steiner-Zitat:
 
„Gewiß ist unendlich Bedeutungsvolles geschaffen worden im Laufe der letzten drei, vier, fünf Jahrhunderte gerade auf naturwissenschaftlichem Gebiet, und unsere Freunde wissen, wie oft ich die große Bedeutung der naturwissenschaftlichen Errungenschaften betone, wie ich sogar das, was die Geisteswissenschaft [so nennt er sein Gesamtkonzept] für die Gegenwart und Zukunft zu leisten hat, mit dem, was Naturwissenschaft im Laufe der letzten, besonders des neunzehnten Jahrhunderts heraufgebracht hat, vergleiche…(GA 261, S. 34)

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„Geisteswissenschaft“ und Schulmedizin - Gegensätze?

Der Ergänzungsweg gilt auch für die Medizin.

Steiner: "In vieler Beziehung sind diejenigen Dinge bewundernswert, welche von der Schulmedizin in der letzten Zeit geleistet worden sind... [Aber:] ...unser Organismus [wird nicht] durch kleinliche Mittel zur Gesundung gebracht, sondern die Geisteswissenschaft selbst ist das große Heilmittel zur Gesundung...Klare, helle Gedanken, umfassende Gedanken, wie sie nur durch eine umfassende, auf das Ganze der Welt, also auch auf das Übersinnliche gehende Weltanschauung hervorgerufen werden können, sind Voraussetzung für die Gesundheit." ( GA 57, SS. 95, 211/212)  

Hier mag die Berufung auf das “Übersinnliche“ stören. Es ist aber so, dass Steiner auf seinem Weg nicht nur abseitige, irrationale oder esoterische Gedankengänge findet, sondern auch plausible, evidente Erfahrungen oder Einsichten. Richtig gesehen hat er, dass Krankheit eine Störung des körperlichen-seelischen-mentalen Gleichgewichts und Heilung ein ganzheitlicher, Leib-Seele-Geist umfassender Prozess ist. Ausgangspunkt der gesundheitlichen Vorsorge und Heilung ist für ihn immer die Betrachtung des ganzen, individuellen Menschen. Auch sein Hinweis auf „Furcht-Imaginationen“, die bei der Ansteckung von infektiösen Krankheiten begünstigend wirken können, ist ebenso evident wie die krankheitsverhindernde und heilungsfördernede Wirkung von positiven Imaginationen.

Dass Krankheiten nicht nur durch Einwurf von Pillen oder mechanischen Eingriffen begegnet werden sollte - also "materialistisch" nach Steiner - ist auch für Nicht-Anthroposophen einsehbar und im übrigen auch keine anthroposophische "Erfindung".

Steiners „Einsicht“, Krankheiten würden mit Fehlhaltungen in früheren Inkarnationen zusammenhängen  und seien auszuleben (GA 93a, S. 73),  werden nur Anhänger der „Karma“-Lehre nachvollziehen können. Es steckt aber auch in dieser Ansicht ein beachtenswerter Kern: Krankheiteiten können sehr wohl ein Hinweis auf alte, krankheitsförderne Gewohnheiten bzw. Einstellungen sein und eine Chance für gesunde Lebensänderungen bieten. Der Gedanke, dass Krankheiten und Seuchen ein Anstoß zur „Erziehung“ (Verhaltensänderung) von Individuen und Gesellschaften sein könnte  oder sollte, ist ja in Hinsicht auf den Corona-Ausbruch durchaus nicht abwegig.

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Buch: Zwanzig Vorträge Steiners vor Ärzten 1920

Gesundheitskonzept – vielfältiger Ansätze

Steiner wird nachgesagt, er sei ein Freund der Homöopathie und lehne allopathische Medizinen ab. Stimmt das? Steiner hat zwar einiges  aus der Homöopathie übernommen, aber die klassische Homöopathie Hahnemanns lehnt er als irrational ab. Seine kritische Haltung belegt folgende Aussage - aus der sich auch ergibt, dass er die Vergabe allopathischer Mittel nicht rundweg verwirft

„Ja, meine Herren, homöopathisch kann man eben nicht alle Krankheiten kurieren; manche muß man eben allopathisch kurieren.“ (GA 349, S. 32)

Steiners Gesundheitskonzept besteht aus weit mehr als den von ihm empfohlenen Rezepturen, dazu gehören naturkundliche Heilverfahren, z.B. die Misteltherapie, harmonisierende Körperübungen wie die Heileurythmie und die Beachtung individueller, kollektiver, ökonomischer, ökologischer, spiritueller und kosmischer Faktoren. 

Heutzutage vertreten anthroposophisch orientierte Mediziner meist die bei Steiner angelegte Ergänzungsstrategie. Sie wenden konventionelle und anthroposophische Behandlungsmethoden an.

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Potenzierungsgerät antroposophischer Heilmittel bei Weleda

Trotz der Komplexität seines Gesundheitskonzepts kann Steiner "Gesundheit" auf eine kurze Formel bringen. Grundlegend sei eine psycho-mental-leibliche und umweltbezogene Ausgeglichenheit zwischen zwei polaren Strebungen, die an uns ziehen:

"Das Leben besteht im Grunde genommen in dem Gleichgewichtsuchen zwischen dem Nüchternen, Trockenen, Philiströsen und dem Schwärmerisch-Phantastischen. Seelisch gesund sind wir, wenn wir das Gleichgewicht finden zwischen dem Schwärmerisch-Phantastischen und dem Trocken-Philiströsen. Körperlich gesund sind wir, wenn wir im Gleichgewichte leben können zwischen dem Fieber und der Sklerose, der Verknöcherung. Und das kann auf unendlich viele Weise geschehen, darinnen kann die Individualität leben." (GA 194, S. 186)

Das ist von Steiners Kosmologie und Anthropologie her zu verstehen, nach denen der heutige Mensch zwischen zwei kosmisch-geistige Mächte gestellt ist, die auf uns und in uns wirken. Ihre Repräsentanten sind "Ahriman" und "Luzifer", Gestalten aus der altpersischen Religion und der christlichen Tradition. (Ahriman ist der Urheber des Bösen, der Übel, Luzifer bewegt zu verführerischer Erkenntnis und daraus entspringender Überheblichkeit). Steiner deutet die Gestalten im Sinne seiner komologischen Evolutionsgeschichte um. Wir sind da voll in der Steinerschen Mythologie,  die auf nicht in die Anthroposophie Eingeweihte befremdlich wirken wird. (Steiner sieht die beiden kosmischen "Wesenheiten" aber nicht nur als mythologische, symbolische Figuren, sondern als durchaus existent an.) Ich beschränke mich auf die Skizzierung der Wirkungen der von beiden Wesenheiten repräsentierten Kräfte.

Da ist einmal das "Ahrimanische" - das "nüchterne, Trockene, Philiströse", insgesamt die einseitige Ausrichtung auf das Triebhafte, Physische, Materielle und trocken Verstandesmäßige, das nicht über den Horizont-Blicken-Können, mangelnde Begeisterungsfähigkeit und Kreativität, geistige Schwerfälligkeit bis hin zu depressiver Hoffnungslosigkeit. Der Gegensatz ist das  "Luziferische" - das meint die Erhebung in das ungezügelt "Schwärmerisch-Phantastische", das abgehoben-übersteigert Geistige, die Verwicklung in illusionäre oder zwanghafte Gedankengebilde,  sonst auch das Sich-Überlassen an Leidenschaften, Rauschzustäde, Sich-Einkapseln in übermäßiger Selbstbezogenheit, Selbsttäuschung, Mangel an Gefühl für das Richtige, die Umstände, die Mitmenschen, dazu die Nichtbeachtung der natürlichen und kosmischen Zusammenhänge.

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Ahriman und Luzifer  

 

als Teil der von Rudolf Steiner für das Goetheanum geschaffenen Holzskulptur "Der Menschheitsrepräsentant zwischen Luzifer und Ahriman", gezeichnet nach dem großen 1:1-Modell. Quelle: Urs Schwendener (Hrsg.): Anthroposophie - eine Enzyklopädie in 14 Bänden, Band 5, S 297 (entnommen AnthroWiki: Dateien, Menschheitsrepräsentanten Ahriman / Luzifer)

Aus dem kurzen Zitat ließe sich Steiners Zeitdeutung, aber auch sein Verständnis von Krankheit und Gesundheit entfalten (GA 106, S. 151) 

Sehen wir einmal von dem mythologischen oder symbolischen Hintergrund ab und nehmen wir das "Rezept" so nüchtern, wie es dasteht - es sieht auf den ersten Blick gar zu einfach aus. Meditieren wir aber darüber, dann kann sich uns erschließen, dass in den von Steiner genannten Prinzipien oder Strebungen und ihrem unausgewogenen Verhältnis zueinander in unserer Lebensführung tatsächlich ein Schlüssel für Verwirrung, Leiden und Krankheit stecken kann. Dabei muss bedacht werden, dass Steiner "innere Krankheiten" von äußerlichen Einwirkungen wie Unglücksfälle oder Vergiftungen unterscheidet - obwohl die auch aus einem Ungleichgewicht der Lebensführung kommen können. Man kann einwenden, hier  würden die  Faktoren der Vererbung oder des Milieus nicht genügend beachtet. Dem entgegnet Steiner, das Prinzip Krankheit sei grundsätzlich - mehr oder weniger im Einzelfall - in der Vererbungslinie angelegt. Außerdem komme das individuelle Karma ins Spiel, das jeder in sein Leben mitbringe oder das kollektive, an dem er teilhabe. Karma sieht Steiner als Chance. als Lösung an, wodurch krankheitsfördernde "Erblasten" abgetragen werden könnten.

Steiner und Epidemien – Selbstheilungskräfte der alleinige Weg?

Steiner hatte Ähnliches wie wir vor Augen – den Ausbruch der „Spanischen Grippe“ – und das macht seine Ausführungen dazu aktuell. So muss auch gefragt werden, ob die heutigen Maßnahmen-Ablehner sich mit Recht auf ihn berufen können.

Angesichts der Spanischen Grippe bestreitet Steiner nicht die krankmachende Wirkung von "Bazillen" (Viren kannte er noch nicht), er weist aber mit Recht darauf hin, dass zur Entfaltung der Erreger immer die körperliche und geistige Disposition von Individuen und Kollektiven gehört.  Er wendet sich gegen übertriebene Bazillenfurcht, hält aber "Hygienemaßnahmen" – gerade in Epidemiezeiten – für durchaus angebracht: 

Nun soll ja … selbstverständlich nicht gesagt werden, daß die Bazillen durchaus gepflegt werden sollen, und daß es etwas Gutes ist, recht viel sozusagen mit Bazillen zusammenzuleben …“ (GA 154, S.46) 

Wen erinnert das nicht an die Parole, man müsse „mit dem Virus leben“? Hygienemaßnahmen – so meint er – seien  nicht nur eine individuelle Angelegenheit, sondern eine "soziale Frage": sie müssten aus dem "Intellektualismus" und Spezialismus der Fachleute in die Gesellschaft gebracht, also "demokratisiert" werden, wie er wörtlich sagt. Steiner wendet sich nicht unbedingt gegen das "Parieren" bei notwendigen Maßnahmen in einer Epidemie - etwa Kontaktbeschränkugen - aber wichtiger als Vorschriften ist für ihn: "wenn Sie in die menschliche Sozietät hineinbringen ein Laienpublikum, das...mit Menschenverständnis dem aufklärend für Prophylaxe wirkenden Arzte gegenübersteht ..." ( GA 57, S. 195, 216). Er hält also verständliche und einsehbare Kommunikation der Maßnahmen für wichtig – ein Gesichtspunkt, den sich Corona-Wissenschaft und -politik „hinter die Ohren schreiben“ sollten.

Steiner erwartet viel von nicht materialistisch verstandenen, individuellen Selbstheilungskräften, aber egoistischen Rückzug darauf findet er nicht heilsam:  

"Nehmen wir an, wir leben in einer Epidemie drinnen oder in einer Seuche. Selbstverständlich muß da einer für den anderen stehen ...Wenn sich ausbreitet eine edle Gesinnung, so daß die egoistische Furcht zurücktritt, und das liebende Helfen unter den Menschen wirkt ..." würde man erfahren, "was die Ausbreitung einer solchen Gesinnung auf das Beendigen von Epidemien wirken könnte, wenn man sich danach benehmen würde." (GA 261, S.16 f.)

Steiner – ein Impfgegner?

Ob Steiner sich gegen die Corona-Impfungen aussprechen würde, läßt sich nicht mit Gewißheit im Nachhinein entscheiden. Steiner sah Impfungen als problematisch an (er hatte die Pockenimpfung vor Augen). An der Pockenimpfung fand er bedenklich, dass sie   materialistisches Fühlen“ verstärken könnte. Er wendet sich aber gegen Fanatismus in dieser Frage - wie überhaupt gegen jeden "Dogmatismus" in Heilmethoden und in den Wissenschaften (Einleitung in Goethes "Naturwissenschaftliche Schriften", S. 133 f.)

„Sehen Sie, wenn man jemand impft, und man hat den Betreffenden als Anthroposophen und erzieht ihn anthroposophisch, so schadet es nichts...". Wo die anthroposophische Einsicht und Erziehung fehlt, empfiehlt er: "Da muß man eben impfen. Es bleibt nichts anderes übrig. Denn das fanatische Sichstellen gegen diese Dinge ist dasjenige, was ich, nicht aus medizinischen, aber aus allgemein anthroposophischen Gründen, ganz und gar nicht empfehlen würde. Die fanatische Stellungnahme gegen diese Dinge ist nicht das, was wir anstreben, sondern wir wollen durch Einsicht die Dinge im Großen anders machen." (GA 314, S. 287 f.). 

Auf Grund dieser Aussagen könnte ich mir vorstellen, dass Steiner wohl die Corona-Impfungen als „Notlösung“ empfehlen oder ihr nicht widersprechen würde, zumal die Impfstoffe ja auch auch nach dem Prinzip "Gleiches mit Gleichem bekämpfen" wirken, wenn auch nicht in homöopathischen Dosen. Steiner selbst hat sich während des 1. Weltkrieges der Pockenimpfung unterzogen. 

https://www.waldorfschule-crailsheim.de/index.php?id=presseschau-konnen-sich-impfgegner-auf-rudolf-steiner-und-die-anthroposophie-berufen

Anti-Maßnahmen-"Spaziergang" in B.H.

 

Die "Internationale Vereinigung Anthroposophischer Ärztegesellschaften" sieht 2019 anthroposophische Ärzte "nicht als Impfgegner" und plädiert für eine "integrative, individuelle Impfentscheidung."  

https://www.gaed.de/arzneimittel/impfungen.html

Neben den mehr rational erscheinenden Gesichtspunkten zu Impfungen finden sich bei Steiner aber auch Spekulationen, die möglicherweise im Hintergrund anthroposophischer Impfgegnerschaft stehen: Steiner spricht davon, dass unter dem Einfluss von „Geistern der Finsternis“ ein Mittel gefunden werden könne, „durch das man die Leiber impfen kann, damit sie nicht Neigungen zu spirituellen Ideen aufkommen lassen, sondern ihr ganzes Leben hindurch nur an die sinnenfällige Materie glauben.(GA 177, S. 231 f.)

Unter Anknüpfung an solche Thesen Steiners wird in einer Neuerscheinung - Thomas Mayer "Corona-Impfungen aus spiritueller Sicht" (Verlag Neue Erde, 2022) - aus "geisteswissenschaftlicher Schau" zu den Corona-Impfungen Stellung genommen. Dabei  werden krude Behauptungen aufgestellt: Corona-Impstoffe seien "ein starker Angriff auf den physischen Leib und den Energieleib .... Dadurch können diese für das Hereinwirken von Seele und Geist des Menschen blockiert werden. Auch der Engel und das Körperelementarwesen können weggedrängt werden. Das kann in der Folge im nachtodlichen Leben zu einer Erdgebundenheit und sehr langem Leid für den Verstorbenen führen." (Verlagsankündigug)

Erfreulicherweise distanziert sich das Magazin "Goetheanum" der "Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft" in Dornach von diesem Elaborat einer Gruppe von "50 anonym auftretenden Menschen" und ihren "übersinnlichen Beobachtungen". In einer Besprechung des Buches bezeichnen die Goetheanum- Autoren (Mediziner) die Ausführungen als "nicht seriös", "unwissenschaftlich und manipulativ", sehen eine "verschwörerische Grundhaltung", halten die "geisteswissenschaftlichen Minimalkriterien" für nicht erfüllt und stellen einen "Schaden für die Anthroposophie" fest.

In den oben zitierten Bemerkungen Steiners wird (u.a.) bemerkbar, dass er sich zwar mit allgemeinverständlichen Einführungen auch an ein nicht anthroposophisches Publikum wandte, „tiefere“ esoterischen Einblicke aber an „Fortgeschrittene", "Wissende" und "Eingeweihte" weitergab. In diesen Ansprachen an einen engeren Kreis finden sich dann für Nicht-Anthroposophen schwer zugängliche und unter rationalen Gesichtspunkten problematische Ausführungen Steiners. 

Von den jetzt schon „Wissenden“ und der weiteren Entwicklung der Menschheit erwartet Steiner eine Durchdringung des allgemeinen Bewußtseins im Sinne der „geisteswissenschaftlichen“ Einsichten. 

Auch hier wieder der Doppelcharakter, die Ambivalenz seines Konzeptes. 

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Steiner und Wissenschaftlichkeit - Kritische Fragen

Soweit Steiner naturwissenschaftliche Erkennnisse ins Spiel bringt – die natürlich zeitgebunden sind - wird man ihm Wissenschaftsorientierung attestieren können. So z.B. in seiner frühen Schrift: „Haeckel und seine Gegner“ (1900). Steiner übernimmt naturwissenschaftlichen Grundlagen Haeckels (wie die „Evolutions-Idee“), nicht aber dessen Folgerungen für die Religion. Steiner will die innere Welt mit der äußeren, Wissen und Glauben versöhnen,  nicht auf dem Weg mystischer Subjektivität und auch nicht mit der bloßen Registrierung „objektiver“ Tatsachen, sondern auf dem Weg der an der Sachlichkeit der Naturwissenschaft geschulten „Sehkraft des Geistes“. Sie soll die von Haeckel auf der materiellen Ebenen gelösten „Welträtsel“ durch Einblick in die geistigen Ebenen und die dadurch  auffindbaren geistigen Qualitäten der Materie (Begriffe, Ideen, Beziehungen) "vertiefen". 

„Unsere moderne naturwissenschaftliche Denkweise ist zwar im eminentesten Sinne wissenschaftlich … aber sie hat so, wie sie ist, alle Möglichkeit verloren, über das Innenleben, über den Geist mitzusprechen. — Und wir müssen, meine ich, wenn wir die ,Zeichen der Zeit' richtig deuten, vor einer Epoche einer Vertiefung in den Geist stehen. Das nächste Zeitalter wird Augustinismus und Haeckelismus als ,aufgehobene Momente' in sich enthalten.“ (Briefe, Band II, S. 304, 1892—1902). 

Steiner übernimmt Haeckels "Monismus", transformiert ihn aber in ein Weltbild, in dem materielle und "geistige Wirklichkeiten" ineinandergreifen. 

Steiner beansprucht für seine Geistes(er)forschung Objektivität, Evidenz und damit Wissenschaftlichkeit. Er meinte: 

„Jeder geistig normal entwickelte Mensch hat das Vermögen, in jene Tiefen [des Geistes] bis zu einem gewissen Punkte hinunterzusteigen. Aber die Bequemlichkeit des Denkens verhindert viele daran.“ (Steiner, Ernst Haeckel und die "Welträtsel", Aufsatz 1899, GA 30 S.393 f.) 

Abgesehen davon, dass sich Steiner in seinem Entwicklungsoptimismus getäuscht hat – es kam nicht Menschheitsaufschwung, sondern die Barbarei zweier Weltkriege - er überschätzt auch die Validität seiner „Forschungsmethode“. Die Überzeugung, dass jeder aufgeschlossene und vernünftige Mensch seine „übersinnlichen“ Erkenntnisse teilen könnte, ist eine Täuschung. Dieser Bereich seiner Lehre ist nicht Wissenschaft, sondern Glaubenssystem. Das wird man feststellen müssen, auch wenn Steiner seine "Geisteswissenschaft" nicht als Religion verstehen wollte.

Zu moderner Wissenschaftlichkeit gehört Nachprüfbarkeit und Intersubjektivität. In den Naturwissenschaften wird verlangt, dass der Weg zum Nachweis biologischer, physikalischer oder chemischer Gesetzmäßigkeiten von allen intellektuell dazu Fähigen nachvollzogen werden kann und dass Ergebnisse unabhängig von der Subjektivität einzelner überall für die entsprechenden Wirklichkeitsbereiche gelten. 

Für die traditionellen Geisteswissenschaften oder Sozialwissenschaften gilt nicht dieselbe Stringenz. Aber für historische, philologische, psychologische oder soziologische Befunde gilt ebenfalls, dass Methoden allgemein nachvollziebar sein sollen, Feststellungen und Interpretationen sich an den Quellen oder dem Untersuchungsfeld zu bewähren haben und zumindest unter Kundigen größtmögliche Zustimmung finden müssen, wenn sie mehr als subjektive Meinungen sein wollen.   

Doch wie soll man mit einer Lehre wissenschaftlich kommunizieren, die sich zwar als „Wissenschaft“ versteht, aber sich herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden gegenüber überlegen fühlt?  Zwar läßt sich Steiners Erkenntnisweg, seine Methode, von Verständnisbereiten nachvollziehen, doch als "Einweihungsweg" ist er nicht von allen begehbar. Die Ergebnisse, seine hellseherischen Einblicke in die „geistige Welt“, lassen sich nicht intersubjektiv nachprüfen oder geltend machen. Das gilt zumindest für die Grundlagen des Welt- und Menschenbildes (die im Rahmen dieses Aufsatzes nicht Thema sind). Wie soll man z. B. damit umgehen, was er in seiner theosophischen Phase (dazu später) in der "Akasha-Chronik", einer Art Weltgedächnis, unter Aufnahme zeitgeschichtlicher Theorien über die Entwicklung der Menschheit gelesen haben will? Allgemeine Geltung können diese spekulativ-phantastischen - und zudem der modernen paläoanthropologischen Forschung widersprechenden - "Lesefrüchte" nicht erlangen. Mit Mühe und Not läßt sich vielleicht eine vage passende Symbolik für die seelisch-geistige Entwicklung und leibliche Ausdifferenzierung des Einzelmenschen und der Menschheit herausfiltern. Doch auch diese Symbolik - ins Empirischen übersetzt - wäre zu überprüfen, ob sie sich vor den Forschungen der Humanwissenschaften halten läßt.

Exkurs 1: Eine Auseinandersetzung mit Steiners Christusbild

Ein anderes Beispiel ist seine hellseherisch aus der Akasha-Chronik gelesene Lehre von den zwei Jesus-Knaben (GA 117, Buddha und die zwei Jesusknaben, Notizen, 1909) und sein Christusverständnis

Steiners Jesus-Christus-Mythos und das neutestamentliche Bild Jesu

In das neugeborenen Kind Jesus hätten sich die "Wesenheiten" Buddhas hineingesenkt. Außerdem habe sich das Ich Zarathustras in ihm inkarniert. („Zarathustra lehrte, den Gott draußen, den großen Kosmos geistig zu begreifen und geistig zu durchdringen. Buddha lenkte den Blick auf die Innerlichkeit ..." GA 114, SS. 94 ff.) Neben dem bethlehemitischen oder "nathanischen" Jesusknaben gab es einen anderen, in Nazareth geborenen, Jesusknaben.  Im 12. Lebensjahr ging die Ichheit des bethlehemitischen Jesus in den nazarenischen über. Der bethlehemitische Jesusknabe starb bald darauf. So vereinigten sich die Lichtreligion des Zarathustrismus und die nach innen gewandte Weisheitslehre des Buddhismus in Jesus von Nazareth. Der nimmt dann noch eine weitere Tradition in sich auf, die althebräische. Diese Kindheitsereignisse bereiten die eigentliche irdische Erscheinung der "Christus-Wesenheit" vor, die als "hohe Sonnenwesenheit", als "makrokosmische" Kraft,  in den Leib des 30-jährigen Nazareners bei der Taufe eintritt. Durch das "Opfer-Mysterium von Golgatha" zieht dann diese  Kraft in die Erd- und Menschheitsentwicklung ein. Im innerlichen Zusammenwirken mit dem "Christus-Impuls" arbeitet sich der Mensch - von Inkarnation zu Inkarnation, von karmischer Aufgabe zu karmischer Aufgabe - zu einer höheren, christusförmigen geistig-sittliche Stufe empor. Der irdische Jesus ist nur eine Hülle, in dem sich das "Welt(en)-Ich" inkorporiert hat, damit die menschliche "Ichheit" sich in Verbundenheit mit dem makrokosmischen Christus-Ich als mikrokosmisches Ich zur höchsten Vollendung entwickelt. (Die menschliche "Ichheit" bildet den Wesenskern des Menschen und hat am Christus-Wesen Anteil.)  (https://anthrowiki.at/Christus)

Die historisch-kritische Bibelauslegung findet in den neutestamentlichen Texten, die Steiner heranzieht, kaum interpretatorisch begründbare Anhaltspunkte für die Haupstränge seiner Erzählungen. Das Narrativ von den zwei Jesusknaben ist eine historische Konstruktion, die im Dienste seiner theosophisch-synkretistischen Idee steht, im "Christus-Ereignis" würden sich die großen Religionsströmungen des Altertums vereinigen. Die anderen Elemente seiner Christus-Saga entsprechen seinem Verständnis der Evolution des Kosmos und der Erde. Wenn man so  will:  bei Steiner liegt ein neuzeitlicher Jesus-Christus-Mythos vor, der aber wenig Anhalt an dem "historischen Jesus" hat. Dessen konkrete Person, sein Leben und Wirken hat durch die lange historisch-kritische Forschung - wenn auch lückenhaft - inzwischen deutliche Züge angenommen. Eben diese Lücken füllen alte und neue nicht-neutestamentliche Erzählungen auf - auch Steiners aus der Akasha-Chronik gelesenes "Fünftes Evangelium" (GA 140). Der historische Wert dieser "geheimen" Evangelien ist - bis auf Spuren - meist gering einzuschätzen.

Ein fiktiver Dialog mit Dr. Steiner

Als wissenschaftsorientierter Theologe möchte ich die historischen Befunde nicht übergehen. Ich würde mich aber mit Steiner eher nicht in einen Streit über historische Faktizitäten einlassen, sondern nach dem Sinn seines Christus-Mythos fragen. 

Der Sinn dessen, was ich geschaut habe - so würde Dr. Steiner wohl wortreich ausführen - ist, dass wir uns durch stete Höherentwicklung geistig und physisch vervollkommnen. Dafür steht der Christus, der selbst ein voll entwickeltes Geistwesen ist und auch nur geistig-spirituell geschaut und wahrgenommen werden kann. Seine Verkörperung im irdischen Leben hat er zurückgelassen, da gibt es keine Fortsetzung; historische Nachfragen gehen an der Erkenntnis des Christuswesens vorbei. (GA 182, S. 25 f.) Mein hellseherischer Blick hat ihn als Aetherwesen, in Engelsgestalt, geschaut, was im Laufe des 20. Jahrhundert - von etwa 1930 an - mehr und mehr geistig Entwickelten möglich sein wird. Dann brauchen wir auch keine schriftlichen Evangelien mehr.(GA 130, S.77 f.) In Jesus von Nazareth wird die Universalität der Christus-Wesenheit sichtbar. Im ihm hat die Evolution der Erde und der Menschheit einen Wendepunkt zur Vergeistigung hin genommen, fließen alle Kultur-, Weisheits- und Religionsströmungen zusammen Sein Wirken steht über allen religiösen Bekenntnissen. In ihm wird sich die Menschheit vereinen. Aber diese Tatsachen können nur auf geisteswissenschaftlichem Wege erkannt werden, dem am Physischen haftenden Denken bleibt dies verborgen.

Kopf des Christus in der von Rudolf Steiner geschaffenen Holzskulptur "Der Menschheitsrepräsentant zwischen Luzifer und Ahriman", gezeichnet nach dem großen 1:1-Modell. Quelle: Urs Schwendener (Hrsg.): Anthroposophie - eine Enzyklopädie in 14 Bänden, Band 3, S 48 (entmommen: AnthroWiki, Datei: Menschheitsrepräsentant Christus). Steiner: " ... wir müssen immer ... das Gleichgewicht suchen zwischen demjenigen, was gewissermaßen schwärmerisch-mystisch über uns hinaus will [ das Luziferische], und dem, was uns materialistisch-verstandesmäßig, philiströs-schwer zur Erde herunterziehen will [ das Ahrimanische], ... in dem Suchen dieses Gleichgewichtes liegt der Christus."  (GA 194, S. 40)

Da hätte ich einige Fragen, Herr Doktor, würde ich antworten. Meine Fragen wären: Hebt ihr Mythos das "Christus-Ereignis" wirklich zutreffend ins Licht? Erfasst ihre Erzählung den Kern dessen, was der irdische Jesus gelehrt, gelebt und ausgelöst hat? Entspricht sie den Erfahrungen, die die Jesus-Bewegung nach Jesu leiblichen Tod mit ihm als transzendentem "Christus" gemacht und hinterlassen hat? 

Mir scheint, Herr Dr. Steiner, sie lösen eine konkrete Person, mit einem eigenen, unvermischten Ich, Jesus von Nazareth, in ein nebulöses Ideen-Gebilde auf. Ja, ich weiß, die biblischen Quellen zeichnen ein Bild von ihm, das vom Glauben geprägt und mythisch überhöht ist. Aber dahinter wird eine konkrete Person mit einer bestimmten Lebensgeschichte, Botschaft und Nachwirkung sichtbar - wenigstens in Grundzügen. Nicht einmal das "Vaterunser", aus dem wir viel über Jesu Gottesverhältnis erfahren, wollen Sie stehen lassen und es durch ein "makrokosmisches" Gebet an die "Väter in den Himmeln" ersetzen. Gerade das ist bei dem neutestamentlichen Jesus zentral, dass er ein inniges Verhältnis zum "Vater im Himmel" hat und diese  personale Nähe zu Gott auch anderen Menschen eröffnet. Bei ihrem Christus, Herr Doktor, sind es "göttlich-geistige Wesenheiten" oder "Kräfte", an die er sich wendet. (GA 148, S. 230 f.) Auch als der neutestamentliche Jesus zum "Pantokrator", zum kosmischen Weltenherr, avancierte, bleiben seine Züge immer noch erkennbar und er kann personal angeredet werden, was ja wohl gegenüber ihrer Christus-Wesenheit unangemessen wäre. Werden durch die Universalität ihres Christus nicht die Eigenarten des Christentums und anderer Religionen, die zu ihnen gehören, übergangen? Trägt nicht jede Religion auf ihre Weise dazu bei, verschiedene Aspekte des Menschen und des Göttlichen erkennen zu lassen? Sollten wir uns nicht darin vereinen, dass wir darüber Gespräche führen, Gemeinsamkeiten suchen, aber auch das, was uns trennt, benennen und uns in den Verschiedenheiten respektieren?

Bei einem Dialog darüber käme wohl heraus, dass Dr. Steiner ein anderes, nicht den neutestamentlichen Quellen entsprechendes Jesus-Christus-Bild hat, sondern Vorstellungen vertritt, in die andere, nicht Jesus-Christus konforme Quellen und  Traditionen eingeflossen sind. 

Dennoch - so würde ich den Dialog mit dem Herrn Doktor fortführen - sehe ich auch Gemeinsamkeiten zwischen dem neutestamentlichen Christusverständnis  und ihrer Akasha-Christus-Sicht. - Nein, nein warten Sie, ich weiß, dass sie sich immer wieder auf das Neue Testament beziehen. Darauf will ich ja gerade hinaus. - Also, Paulus sprach davon, dass Jesus als Christus in ihm lebe: "Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir."  (Gal. 2,30) Auch für Paulus trat der irdische Jesus ganz zurück gegenüber der inneren Gegenwart des aus  der göttlichen Sphäre wirkenden Christus - wie bei Ihnen Herr Doktor.  Sie wissen es ja am besten durch ihre Mystik-Forschungen (Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens ... GA 7, 1901): die christliche Mystik hat das aufgenommen, indem sie davon sprach, dass Christus-Jesus im "Seelengrund" lebe und dort zu finden sei. Dies haben auch Sie in ihrer Christologie und Anthropologie verwendet und das Pauluswort wiederholt zitiert : "Nicht Ich, sondern der Christus in mir." - so sagten Sie (GA 211, S. 58) - mit feinen Unterschieden zu Paulus, wenn ich das als Philologe feststellen darf. Der große Unterschied ist freilich der, dass  in Paulus der Christus-Jesus lebt, dem er in seinem Damaskus-Erlebnis begegnet ist. "Ich bin Jesus von Nazareth, den du verfolgst" heißt es in der Apostelgeschichte. (22,8, 9,5; Gal. 1,12) In der christlichen Mystik ist damit auch der irdische Jesus mit seinem Geschick und dem von ihm im Neuen Testament überlieferten Erzählungen präsent. Man muss nur an die Predigten von Meister Eckhart denken. Es ist  offensichtlich, dass Sie einen anderen Christus geschaut haben als den, dem Paulus begegnet ist, nämlich das hohe, aus dem "Sonnenlicht" herabgestiegene Christuswesen mit seiner ziemlich komplizierten Geschichte, für das der Zimmermanssohn aus Nazareth nur eine kurzzeitige Hülle war. Daran ändert sich auch nichts, wenn Sie ihr spirituelles Christusverständns gegenüber dem historistisch-"materiell" verzeichneten Jesus-Christus-Bild von Theologen ihrer Zeit hervorheben, wobei sie mit Recht einen Mangel an Spiritualität konstatieren.

Nun sei´s drum. Ein Anknüpfungspunkt für das Gespräch über Christusbegegnungen - und was daraus folgt - ist mit dem Rückgriff auf Paulus gegeben. Doch stellen wir das jetzt zurück.  Ich sehe noch eine weitere Gemeinsamkeit, die mit der Christus-Erfahrung in unserem Inneren zusammenhängt. Sowohl bei Paulus wie bei Ihnen, Herr Doktor, ergibt sich aus der Christusbegegnung eine  Ethik. Sie sprachen davon, dass der im Inneren lebende Christus "im Umgange von Mensch zu Mensch" als "wirksame Kraft" gefunden werde. Erstaunen, Verwunderung, Liebe, Mitleid und Gewissensbildung erfolge aus dem Christus-Impuls. (GA 133, S. 114)  Kämen wir dahin, würde dies zur "Durchchristung unseres sozialen Lebens" führen. (GA 211, S. 61). Und nicht nur das, die Öffnung für den Christus-Impuls würde nicht nur die psycho-mentale, moralische, soziale Entwicklung des Menschen, sondern auch die Gesundung seines physischen Leibes und des ganzen Erdorganismus voranbringen. (GA 133, SS. 113 ff.) Christus als "Heilprinzip" der Lebens-, Gesellschafts- und Weltgestaltung - da stimme ich ihnen als biblisch und jesuanisch ausgerichteter Theologe zu. Und hier treffen sich auch ihr Christus und meiner. Und nebenbei: "Erstaunen und Verwunderung" am Anfang dessen, was uns der "Christus-Impuls" bringt, das finde ich sehr schön!

steiner_skulptur_christus_zwischen_luzifer_und_ahriman

Steiners Holzskulptur Christus zwischen Luzifer (links oben ) und Ahriman (unten). Quelle: AnthroWiki wie oben
 

Nehmen wir einmal an, dass es bei diesem fiktiven Dialog Zuhörer gibt. Die weiteren Fragen gingen dann an sie - sofern sie sich auf dieses Fragen einlassen wollten: 

Welche Jesus-Christus-Überlieferung hältst du für authentischer; diejenige, die auf der Exegese der neutestamentlichen Evangelien und Schriften beruht, oder diejenige, die hellseherisch aus der Akasha-Chronik gelesen wurde? Und wem willst du vertrauen - Interpreten, die sich auf die neutestamentlichen Quellen beziehen, oder Dr. Steiner mit seinen Anhängern, die sich auf die Einsicht in die Akasha-Chronik berufen? Welcher der beiden Jesus-Christus-Gestalten erscheint dir mit den von ihnen angebotenen Lebensorientierungen überzeugender?  Welcher Jesus-Christus beantwortet deine Lebensfragen am ehesten? Welchem Jesus-Christus könntest du dich anschließen und aus welchen Gründen? An wen möchtest du dich wenden, wenn du in schwierigen Situationen bist?

Nach den innerlich oder äußerlich ausgesprochenen Antworten und Begründungen ginge man dann - hoffentlich in Respekt voreinander und nachdenklich  - auseinander. Es gäbe zwar Gründe für die eine oder andere Entscheidung, aber rational ließe sich der Diskurs endgültig nicht entscheiden - obwohl Dr. Steiner da wohl durch die (subjektive) Gewißheit seiner hellseherisch gewonnenen Einblicke in "konkrete Tatsachen" (GA 148, S. 324) anderer Meinung wäre.

Zur "Leben-Jesu-Forschung": Gert Theisen/Annette Merz, Der historische Jesus, Ein Lehrbuch, Göttingen 2011, 4. Aufl.; über "alternative" Jesusbilder: W. Janzen, Neues über Jesus? Jesusliteratur außerhalb der "offiziellen" Theologie, Religion heute, Zeitschrift für Religionspädagogik, 7/1991, SS. 158 ff.

steiner-hellsehen
Steiner im Status des Hellsehens (Quelle: Screenshot aus: dem Vortragsvideo von H. Zander über Steiners Spiritualität. - Steiner über Hellsehen: „Nichts kann so sehr die Lügenhaftigkeit züchten als ein gewisses bloß visionäres Hellsehen, das nicht am Gedanken sich aufrankt und kontrolliert wird." (GA 117, SS. 71 ff.) Steiner stellt Kriterien für glaubhaftes Hellsehen und dadurch gewonnene Erkenntnisse auf (u.a. Vergleich auf Übereinstimmung mit Schauungen anderer geschulter,  spirituell erfahrener und reflektierter Seher).

Lebensdeutungen und ihre Wahrheit

Steiners Einsichten beruhen auf seiner persönlichen Sichtweise und erhalten ihre Geltung in der Anthroposophie auf Grund seiner Autorität in dieser Gemeinschaft. Das heißt nicht, dass sie indiskutabel wären. Schließlich trifft auf jede auf Spekulation beruhende Philosophie und durch Inspiration begründete Religion zu, dass die Geltung ihrer Aussagen nicht intersubjektiv nachprüfbar ist. Dabei geht es um Grundfragen menschlicher Existenz, die nicht wissenschaftlich zu beantworten sind.  

Hier gelten ein anderes Wahrheitsverständnis und andere Kriterien als in den traditionellen Wissenschaftsbereichen. Entscheidend sind die Erfahrungen inspirierter oder weiser Personen, die Glaubwürdigkeit dieser Personen und das Vertrauen in sie. Daraus entsteht die subjektive und gemeinschaftliche Überzeugung der Wahrheit ihrer Botschaften, die aus der Verbindung mit der Tranzendenz oder einer umfassenden Lebenseinsicht resultieren. Zustimmung erfolgt mehr auf intuitive als kognitive Weise: 

"Es  leuchtet mir ein, was Jesus, Buddha oder Steiner vertrit

Dabei spielt die eigene Lebenserfahrung, nicht nur das Denken eine große Rolle.

Insofern kann eine tiefere Auseinandersetzung mit Steiner nicht nur auf der kognitiven Ebene erfolgen, sondern ist immer eine Herausforderung zur Selbstbegegnung und Überprüfung der eigenen geistigen und spirituellen Grundlagen. Und das ist nicht mit einem schnellen Durchlauf durch Schriften Steiners getan.

Auch Steiners "geisteswissenschaftliche" Einsichten - etwa seine Christus-Schauungen - verlangen da, wo sie sich nicht empirisch beziehungsweise quellenmäßig verifizieren oder falsifizieren lassen, Vertrauen in ihn und Für-Wahr-Halten seiner Einsichten. Er würde das bestreiten: immer wieder wendet er sich gegen Autoritätshörigkeit, blinden Glauben und verlangt "freies Denken", rationale Prüfung. (GA 121, S.200) Steiner muss schon sehr von der "Tatsächlichkeit" seiner Erkenntnisse überzeugt gewesen sein.  Aber ohne Gläubigkeit geht es auch in der Anthroposophie nicht zu.

Steiner  wirft dem traditionellen Christentum vor, es verlange Unterwerfung,  Glauben ohne eigenes Denken und sei durch starren Dogmatismus gekennzeichnet - im Gegensatz zur erkenntnisorientierten und freien Anthroposophie. Das läßt sich zwar immer wieder beobachten,  ist aber nicht durchweg zutreffend. Die  Programme: "Fides quaerens intellectum" - "Der Glaube sucht nach Einsicht" (Anselm von Canterbury) oder "Glauben und Verstehen" (Rudolf Bultmann) begleiten die Theologie nicht erst seit der Scholastik. Sowohl im verfassten Christentum als auch in der Anthroposophie gibt es kritischen, undogmatischen und unkritischen, dogmatischen Glauben, mehr oder weniger ernsthafte Erkenntnisbemühungen, Beharrungskräfte und Erneuerungsbestrebungen. Diese Einsicht könnte das schwierige Verhältnis zwischen Anthroposophie und Kirchen entlasten.

steiner_malerei
Steiners philosophisch-weltanschaulicher Ausgangspunkt: "Erkenne dein Ich". Steiner-Malerei - ursprünglich farbig - an der Kuppel des ersten Gotheanums 1919.   Steiner zitiert Goethe. "Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so
heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit

haben und es ist doch immer die selbige." (Einleitung zu Goethes "Naturwissenschaftliche Schriften", S. 133)

Ausschließliches Beharrren auf bestimmte Wissenschaftsmethoden und -kriterien ist auch eine Art von Wirklichkeitsblindheit. Die herkömmliche, naturwissenschaftliche Methode ist  nicht die einzige Form der Naturerkenntnis. Steiner knüpfte in seiner Sicht der Natur an Goethe an - ein Sichtweise, die sich in der Wissenschaftsgeschichte nicht durchsetzte, aber ihre Berechtigung hat. 

Exkurs 2: Eine andere Art des Erkenntnisgewinns

Steiner hat 1883-1897 Goethes "Naturwissenschaftliche Schriften" herausgegeben. In der "Einleitung" legt er "eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie)" vor.

Auf dem Weg zum Wissen ...

In dieser viel zu wenig beachteten Abhandlung entwickelt Steiner in Anknüpfung an Goethes Naturanschauung und Vorstellung vom "Humanum" in klarer und umfassender Weise die Grundlagen anthroposophischen "Wissens und Handelns". Dies geschieht hier noch ohne den Bezug auf theosophische Spekulationen, obwohl sie sich daran anschließen lassen. (Der nicht für den theosophischen Obskurantismus empfängliche Leser wird die Steinerschen Ausführungen als angenehm sachbezogen und nachvollziehbar empfinden.)

Goethe sucht in der Vielfalt der anorganischen und organischen Erscheinungen, das den einzelnen, sinnlich wahrnehmbaren Bildungen zugrunde liegende ideelle Entwickungsprinzip, den belebenden, entwicklungsbestimmenden und formgebenden Grundtypus, das "Urphänomen". 

Nach Steiner ist dies eine "Idee", "die in unserem Geiste ebenso lebt wie im Objekt." (A.a.O., S.4). "Alle sinnlichen Qualitäten erscheinen hier vielmehr als Folge eines solchen, welches nicht mehr sinnlich wahrnehmbar ist. Sie erscheinen als Folge einer über den sinnlichen Vorgängen schwebenden höheren Einheit." (A.a.O., S. 52)

Wir finden hier das Grundprinzip der anthroposophischen Weltschau, den Blick auf die "materiellen" Phänomene von der "geistigen Welt" her. Materie ist geistdurchdrungen und geistgewirkt. Beide Bereiche gehören zusammen und bilden die Ganzheit des Kosmos. Die Erkenntis der Wirklichkeit muss demgemäß  beide Elemente umfassen. Dies geschieht durch empirische Beobachtungen und intuitive Schau, durch Hinaufhebung "der Sinneserfahrung in geistiges Anschauen." (A.a.O., S. 163) 

... und zum Handeln

Auch das menschliche Handeln, Ethik, ergibt sich aus der Naturerkenntnis, durch "treues Pflegen des Verkehres mit der Natur" (a.a.O. S. 163):

"Unser Erkennen führt uns dahin, die Tendenz des Weltprozesses, die Intention der Schöpfung aus den in der uns umgebenden Natur enthaltenen Andeutungen zu finden ... Und so erscheint uns unser Handeln direkt als eine Fortsetzung jener Art von Wirksamkeit, die auch die Natur erfüllt. Es erscheint uns als unmittelbarer Ausfluss des Weltgrundes." (A.a.O., S. 149)

Naturprozesse sind "Manifestationen der Idee", "menschliche[s] Tun die agierende Idee selbsr." Im Denken des Menschen handelt der - unpersönlich gedachte - "Weltgrund", tritt zutage, enthüllt seine Rätsel. In rechter Weise erfolgt die selbstlose Hingabe an diesen Prozess nicht als Zwang, sondern in Freiheit und auf Grund individueller Erfahrung. Doch  im "Fahrwasser" der objektiven Ideen "müssen sich zuletzt alle Menschen treffen, wenn sie energisches Denken über ihren Sonderstandpunkt hinausführt." (A.a.O., S. 132)

"Ethik" sei - so Steiner - "wie alle anderen Wissenschaften eine Lehre vom Seienden", nicht vom Seinsollen. (A. a. O., S. 156)

Ich ergänze die Interpretation Steiners durch einen eigenen Text:

"Naturphänomene können für Goethe gleichnishaft, symbolhaft für menschliche, psychische Vorgänge erscheinen. Naturerkenntnis ist für ihn auch Selbsterkenntnis und Erkenntnis der menschlichen Verhältnisse. Und was man hinzufügen muss: Das ´fortwebende Leben der Natur` deutet auf göttliches Wirken hin und eine göttliche Ordnung, die in der ´Tiefe der Schöpfung` ruht, nur intuitiv erfasst und als göttliches Geschenk erfahren werden kann....
Diese Haltung mag unzeitgemäß sein, könnte uns aber nachdenklich machen, ob wir mit unserem ´zeitgemäßen` Wissenschafts- und Weltverständnis auf dem allein richtigen Wege sind." 
 
  
Eine Synthese von Natur- und Geisteswissenschaften?
 
In meinem Roman "La Arqueta" (Norderstedt 2019) trifft sich manches mit Gedanken von Steiner. Der Hauptheld Hendrik, ein Naturwissenschaftler, sucht nach einer Synthese von natur- und geisteswissenschaftlicher Erkenntnis: 
 
"Wir Naturwissenschaftler neigen dazu, die Naturvorgänge zu isolieren und sie auf das Festellbare zu reduzieren.. Aber weisen die einzelnen Naturvorgänge nicht auf einen Gesamtzusammenhang hin, in dem sie stehen?  Ist es nicht EINE Welt, in der sich alles abspielt, ein Strom des Lebens, aus dem alles quillt, Naturvorgänge und menschliche Prozesse? Bildet die Welt nur ein Wirkungsgefüge chemischer, physikalischer, biologischer kausaler Zusammenhänge oder wohnt ihr nicht auch ein Verweischarakter auf ästhetische, symbolische , ethische, geistige Qualitäten inne?" (S. 149) 
 
Hendrik tritt dafür ein, dass auch "Mythologien Wahrheiten ausdrücken" können: "Mythologische und wissenschaftliche Sprache bewegen sich in verschiedenen sprachlichen ´Häusern`. Es entstand viel unnötiger Streit in der Geistesgeschichte, weil man die ´Sprachhäuser` absolut, als jeweils einzig zutreffendes Abbild der Wirklichkeit nahm." (S.374)
 
Bei der Betrachtung eines Diamantringes meint der Romanheld: 
 
"... dass Steine sich mit Geschichten, Ideen und Bedeutungen verbinden. Nun, man könnte sagen, das tragen wir an sie heran. Aber immerhin geben sie durch ihre Eigenschaften Anlass dazu. Gehören die mit ihnen verbundenen symbolischen, ästhetischen und geistigen Qualitäten nicht auch zu ihrer Erscheinung? Unter dem geowisssenschaftlichen Blickwinkel sind sie ein Naturprodukt. In einer ganzheitlichen Betrachtungsweise sind sie mehr als das. Jedenfalls erinnert mich der durchaus materielle Diamant des Rings an die ideelle Wirklichkeit des Grals, die immer noch ihre Strahlkraft ausübt. [Der Ring gehörte einer Romanfigur, die auf der Suche nach dem "Gral" war.] Und nicht zuletzt mahnt mich der Stein an Verpflichtungen, die mir aus dem erwachsen, was mir zuteil wurde." (S. 432)
 
So sucht Hendrik nach einer "Hermeneutik", einer Verstehenslehre, die Natur- und Geisteswissenschaften, naturwissenschaftliche und religiös-mythische "Abbilder der Wirklichkeit" umfasst

Exkurs 3: Kriterien der Bewertung "okkulter" Daseinsdeutungen

Das Verständnis für diese Art "ganzheitlicher" Erkenntnisbemühungen kann nun nicht heißen, dass es keine qualitativen Unterschiede in ästhetischen, ethischen, philosophischen und religiösen  "Bildern" der Welt- und Menschenwirklichkeit gebe. Das subjektive Überzeugtsein ist kein Kriterium in einer auf Vernunft und Dialog angewiesenen Gesellschaft; Beliebigkeit führt zum Zerfall der für jedes menschliche Zusammenleben nötigen grundlegenden Werte.

Sich Einlassen auf den Streit um die Wirklichkeit

So muss sich auch Steiners Entwurf im Gespräch mit philosophisch und religiös anders positionierten Partnern.diskursiv  einer kritischen Prüfung auf seine Erlebens-Evidenz und lebensweltliche Bewährung gefallen lassen. Fragen wären:  

Können seine Einblicke in jenseitige Sphären eine Überzeugungskraft entfalten, die über Gruppen-, Milieu- und Kulturgrenzen hinausreicht?  Bewährt sich Steiners Wirklichkeitsdeutung, sein Natur -, Gesellschafts- und Menschenverständnis an der heutigen Wirklichkeitserfahrung - im Umgang mit der Natur, im Zusammenleben und in der Lebenspraxis von Menschen, im Verhältnis zur Transzendenz? Und was sind die Folgen der von ihm vorgeschlagenen Denk- und Lebensweise? Wo gibt es Widersprüchlichkeiten und welche Lebensfragen bleiben offen oder ungelöst? 

Wie jede andere Welt- und Lebensdeutung, Philosophie oder Religion, sollte sich auch Antroposophie auf den "Streit um die Wirklichkeit" einlassen, wenn sie nicht nur ein elitärer oder arkaner Zirkel sein will. Andererseits ist es bei der Auseinandersetzung mit der Anthroposophie nicht damit getan, ungeprüfte und undifferenzierte Behauptungen "ins Feld zu führen" oder sie von vorneherein als "unmöglich" abzuqualifizieren.

Dies gilt für den Bereich der Daseinsorientierung. Doch auch im wissenschaftlichen Bereich müsste sich Anthroposophie dem Streit um die Wirklichkeit stellen und bereit sein, sich auf die Ebene der empirischen Wissenschaften kommunikativ einzulassen - wie diese allerdings anthroposophische Verfahren und Befunde nicht einfach nur abtun sollten.  Das Beharren auf einem "anerkannten" oder "alternativen" Wissenschaftverständnis wäre Diskursverweigerung und für die Wahrheitsfindung abträglich.

Vernunft und Menschlichkeit

Ich füge hier Überlegungen ein, die ich vor längerer Zeit zum Umgang mit "Okkult-Bewegungen" gemacht habe - Steiners Entwurf gehört - historisch eingeordnet - zu den "ausgeführten okkulten Welt - und Lebensdeutungssystemen". (W. Janzen, Okkultismus II, Theol. Realenzyklopädie=TRE, Berlin New York, 1995, SS. 221 ff.). 

Diese Überlegungen halte ich nach wie vor für aktuell: 

"Über Daseinsverständnisse kann rational nicht entschieden werden. Da wir aber heute - welcher Religion und Weltanschauug wir auch immer angehören - nicht mehr in der Isolierung oder gar der gegenseitigen Verdammung existieren können, sondern gezwungen sind, die Weltprobleme gemeinsam zu lösen, brauchen wir eine Gesprächsbasis, die wir alle akzeptieren können und die als Ausgangsbasis der Diskussion  dienen kann: Ich meine , dass es zwei Maßstäbe gibt, an denen wir heute religiöse Phänomene messen müssen: die Vernunft und die Menschlichkeit." (W. Janzen, Okkulte Erscheinungen, Astrologie, Spiritismus, Unterrichtsversuche ..., Stuttgart, 1975, S. 152) 

Mit dem Maßstab der "Vernunft" meine ich  den vernünftigen Umgang mit sachbezogenen Fragen und religiösen Elementen einer Daseinsdeutung. Dem würde z.B. die Einnahme eines Absolutheitsanspruches ("Nur wir sind im Besitz der absoluten und unwandelbaren Wahrheit") zuwiderlaufen - oder die fanatische Vertretung der eigenen "Wahrheit". 

Unter  "Menschlichkeit" verstehe ich den respektvollen, konstruktiven und gleichberechtigten Umgang mit anderen und Andersüberzeugten. Dazu gehört aber auch die Frage, ob eine Welt-/Lebensdeutung oder Religion die Möglichkeit zu einem selbstbestimmten und sinnerfüllten, befriedigenden Leben fördert oder behindert.

Eine Bewertung Steiners und seines Gesamtentwurfes nach diesen Kriterien  - sofern sie anerkannt werden - überlasse ich den Lesern, aufgrund dieses Textes und - noch besser - eigener Lektüre Steiners.

Verzicht auf Wissenschaftanspruch?

Steiner entwickelte seine Anschauungen am Ende des 19. Jahrhunderts, einer forschrittsoptimistischen Zeit, die viel von den damaligen Entdeckungen der Naturwissenschaften erhoffte. Diese, aber auch die historischen Wissenschaften hatten zu einer großen Erweiterung des Weltbildes und der Weltbewältigung geführt. So ist es verständlich, dass er seinerseits über Grenzen hinausgriff und seinen Erkenntnisweg an das Wissenschaftdenken anpassen wollte. Historisch - aus der damaligen geistigen Situation heraus - war Steiners Versuch begründet. Nach einer langen Zeit der Bewährungsprobe wird man sagen müssen: Das von Steiner hoffnungsvoll und zu seiner Zeit aussichtsreich erscheinende Projekt einer objektiven und allgemein evidenten Wissenschaft des Geistes ist gescheitert. Steiner ging davon aus, dass die Zahl der spirituell Entwickelten und Hellsehfähigen zunehmen und so eine Evidenz des Geschauten durch kritische Vergleiche möglich sein werde. Dies ist nicht eingetreten. Das heißt nicht, dass alles, was Steiner ins Licht gehoben hat, wertlos sein müsste. Vielleicht wäre es aber heute besser, wenn Anthroposophie bei den ins Jenseitige greifenden "Erkenntnissen" Steiners auf den Anspruch der "Wissenschaftlichkeit" verzichten würde. Das dürfte Konfliktpotential aus der Anthroposophie nehmen und das Gespräch über anthroposophische Überzeugungen versachlichen. Vielleicht könnte dann auch der Erkenntnisweg Steiners über Imagination, Intuition, Inspiration und Vision tatsächlich eine produktive Ergänzung zu herkömmlichen Methoden der Wissenschaft sein.

Oder wurde der Wissenschaftsanspruch schon stillschweigend aufgegegeben?

                                                                                          ~~~~~

Das Bild des wissenschaftlichen Weges nach dem jungen Steiner: der Verstand erschafft die Trennung der einzelnen Gebilde (absondernde, ausgezogene Linien) mittels Begriffen, die Vernunft erkennt die Einheitlichkeit (punktierte Linien) und reiht sie in die Ideenwelt ein.

"Und darinnen besteht die wissenschaftliche Methode, dass wir den Begriff einer einzelnen Erscheinung in seinem Zusammenhange mit der übrigen Ideenwelt aufzeigen". (Einleitung zu Goethes "Naturwissenschaftlichen Schriften", a.a.O., S. 129)

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Steiners graphische Skizze vom wissenschaftlichen Weg in der Einleitung zu Goethes "Naturwissenwissenschaftlichen Schriften", a.a.O., S. 130

Steiners "Sonderwelt" - demokratisierbar? "Sektenmentalität" als Folge?

Bei Teilen von Steiners praxisbezogenen Äußerungen und Anregungen ließe sich eine herkömmliche, empirisch-wissenschaftliche Nachprüfung vornehmen. 
Dass manches der „Anwendungs-Anthroposophie“ „wirkt“ - wie auch immer - oder mit Erfolg betrieben wird,  läßt sich nicht bestreiten. 
Immerhin erfreuen sich einige anthroposophisch inspirierte Praxisfelder und Unternehmungen auch unter Nicht-Anthroposophen eines bemerkenswerten Zuspruchs. 
 
Beispiel Demeter-Landwirtschaft (Videos und Text):

Steiner hielt das „demokratische Prinzip“ für eine „elementare Forderung der neueren Menschheit“. (Soziale Zukunft, Dornach 1981, S. 85ff.) Trotzdem muss man fragen, ob sich Steiners eigentliche Erkenntniswege und Einsichten „demokratisieren“ lassen. Resultiert aus seinen Sonder-Offenbarungen nicht auch eine Haltung, die sich tendenziell demokratischen Verfasstheiten von Gesellschaften und „Main-Stream“-Orientierugen überlegen fühlt? Ist es diese Haltung, die möglicherweise zur Teilnahme von Anthroposophen bei den „Querdenken“-Demonstrationen mit ihren „Wir blicken es, ihr nicht“-Kundgaben beiträgt? 

"Querdenken" und Anti-Maßnahmen-Demonstrationen setzen sich aus Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Motiven zusammen.  https://www.heise.de/tp/features/Querdenken-als-Ausdruck-der-Polarisierung-6033683.html

Beweggründe und Teilnehmerschaft sind auch ländermäßig unterschiedlich. Vor allem in Württemberg, einem Stammland der Anthroposophie, finden sich Anthroposophen unter "Querdenken" und bei Demonstrationen. Nadine Frei und Oliver Nachtwey haben hier in ihrer Untersuchung "Quellen des ´Querdenkertums»´. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg" (2021) einen "starken Zusammenhang ["anthroposophischer Praxisfelder" und des "anthroposophischem Milieus"] zur Querdenken-Bewegung" gesehen. (S.33) Die Studie ist nicht repräsentativ, weist aber auf Tendenzen hin, die vor allem in Interviews und bei der Beobachtung von Demonstrationen sichtbar werden.

Belegbare Zahlenangaben zu der Beteiligung von Anthroposophen im engere Sinne oder von Angehörigen des "anthroposophischen Milieus" - ein schwammiger Begriff - an "Querdenken"-Unternehmungen werden in der Untersuchung nicht gemacht.  Eine andere Sache ist, dass es offenbar unter Anthroposophen und ihnen nahe stehenden Milieus eine Neigung zu "Querdenken"-Positionen gibt. Offensichtlich ist aber auch, dass sich nicht alles an ideellen Beweggründen auf Steiner und anthroposophische Quellen zurückführen läßt. Die (wenigen) interviewten offiziellen Verantwortlichen  anthropsophischer Einrichtungen (Klinik, Waldorf-Schulen) distanzieren sich von Maßnahmenkritikern. 

Kritik an der Studie von anthroposophischer Seite:  https://www.anthroposophische-gesellschaft.org/blog/umstrittene-studie-anthroposophie-als-quelle-des-querdenkertums

Steiner empfand sich wohl als eine Art philosophischer Agent des „Weltgeistes“  und war von einem ausgesprochenen Sendungsbewußttsein erfüllt. Das hat sich auf Teile seiner Jüngerschaft übertragen. Das Eintauchen in und die Beharrung in seiner Sonderwelt ist gesellschaftlich problematisch und kann durch ihren quasi-religiösen Charakter dissoziale  Wirkungen entfalten. Dazu gehören kommunikative Störungen wie Verhärtung gegen andere Sichtweisen oder Fanatismus. Auf Steiner selbst trifft dies nicht zu, ist aber eine Gefahr unter seinen Anhängern.  

Als einer, der beruflich in Waldorf-Schulen kam, auch auf anderen Arbeitsfeldern,  hatte ich Kontakte mit Anthroposophen (u. a. Teilnahme an einem anthroposophischen Kongress: ´Moderne Spiritualität`,Trier 1997 mit einem Vortrag über ´Okkultismus - eine Bedrohung für Christen und Kirchen?` (Enthalten in: Moderne Spiritualität - Wege und Irrwege, Stuttgart 1997, S. 57 ff.).

Bei meinen Begegnungen habe ich aufgeschlossene, liberale Steinerianer erlebt und auch engstirnige, verbohrte. Doch  das findet man bei allen religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen.

Steiner – ein Rassist?

Ob Steiner Rassist und Antisemit war, ist in der Fachdiskussion umstritten. (Dazu: Helmut Zander, Rudolf Steiners Rassenlehre, 2006.) Ohne Zweifel hat er zeitgenössische pseudowissenschaftliche Versatzstücke in dieser Richtung aufgenommen.  Seine Rassenlehre baut auf der Evolutionslehre des 19. Jahrhunderts auf. Nach ihm verliert der (von ihm kreierte) Rassenbegriff für die gegenwärtige Menschheit seine Berechtigung. Beharren auf Rassen-, Volks- und Blutsideale seien ein Rückschritt: 

"Es wird dahin kommen, daß alle Rassen- und Stammeszusammenhänge wirklich aufhören. Der Mensch wird vom Menschen immer verschiedener werden [d.h. immer mehr Individuum werden]. Die Zusammengehörigkeit wird nicht mehr durch das gemeinsame Blut vorhandensein, sondern durch das, was Seele an Seele bindet. Das ist der Gang der Menschheitsentwickelung." (GA 99, S. 129)

Die Überholtheit des alten Judentums begründete er mit dem evolutionären Religionverständnis, das er vertrat. Dennoch sprach er von der "wunderbaren Sendung des hebräische[n] Volksstammes" (innerhalb der geistig-religiösen Entwicklung der Menschheit). (GA 117, SS. 55 ff.) 

Mit seinen Vorbehalten gegen das Judentum und mit seiner Rassentheorie ist Steiner Mensch seiner Zeit. Im Bürgertum der damaligen Zeit - dem er sich eingliederte - waren rassistische und antijüdische Resentiments üblich. In seinen persönlichen Beziehungen wehrte Steiner sich gegen den ihm unterstellten Vorwurf des Antisemitismus. ("Mein Lebensgang", GA 28, S. 193)

Was gegen eine unhistorische Überbewertung dieser "aus der geistig-historischen Überschau" (a.a.O) gewonnenen Elemente in seinem Werk spricht, ist die individualistische und zugleich universalistisch-kosmopolitische Ausrichtung seines Konzepts: 

"Deshalb ist es notwendig, daß diejenige Bewegung, welche die anthroposophische genannt wird ... gerade in ihrem Grundcharakter dieses Abstreifen des Rassencharakters aufnimmt, daß sie nämlich zu vereinigen sucht Menschen aus allen Rassen, aus allen Nationen und auf diese Weise überbrückt diese Differenzierung, diese Unterschiede, diese Abgründe, die zwischen den einzelnen Menschengruppen vorhanden sind." (GA 177, S. 152)

Überhaupt muss man vielleicht die obskuren Elemente in seinem Werk von den erfahrungsgemäß begründeten und wegweisenden Einsichten trennen.

Steiner und der Nationalsozialismus

Steiner selbst - oder die Anthroposophie generell - in die Nähe des Nationalsozialismus zu rücken, ist eine Fehlzeichnung. Steiner löste mit seinen Vorträgen und der Eröffnung des "Goetheanums" haßerfüllte Reaktionen völkischer, rechtsnationaler und antisemitischer Kreise aus. Die Anthroposophische Gesellschaft wurde 1935 von den Nazis verboten. Was Nazis aufnahmen, ist die Landwirtschaftbewegung, die von Steiner ausging. Die passte in ihr völkisches Konzept.

Auf den Münchener Putschversuch Hitlers 1923 reagierte Steiner entsetzt: 

"Wenn diese Herren an die Regierung kommen, kann mein Fuß deutschen Boden nicht mehr betreten"

Er sprach von einer "großen Verheerung", die über Mitteleuropa kommen könne.   

https://dasgoetheanum.com/im-fadenkreuz-der-ns-propaganda/

Hitler sah in der Anthroposophie einen "Krankheitserreger" und in ihren sozial-politischen Bemühungen eine gezielte "jüdische" Strategie zur Zerstörung Deutschlands.

waldorfschulen 
 
Sozial-politisches Konzept – Ein „Dritter Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus 
 
In seinem sozial-politischen Konzept grenzt sich Steiner von Kapitalismus, Kommunismus, Nationalismus ab und entwickelt einen eigenen, bemerkenswerten Gesellschaftsentwurf ("Die Kernpunkte der sozialen Frage", 1920).

In seiner Gesellschaftstheorie  geht es um Selbstbestimmung und Zusammenwirken der von ihm postulierten drei Bereiche des gesellschaftlichen „Organismus“: Geistesleben, Rechtsleben, Wirtschaftsleben.  Sie treten nach den Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit an. Die drei Bereiche sollen sich nach den jeweiligen Prinzipien ohne staatliche Bevormundung entfalten und im Rahmen einer demokratisch verfassten Rechtsordnung kooperieren. Ausgangspunkte sind Gleichheit, Mündigkeit und Solidarität der Bürger. Im „Geistesleben“ und im „Wirtschaftsleben“ ist nicht jeder kompetent, hier sind Majoritäten fehl am Platz.   

In einem „Rechts- oder Staatsleben“, das wirklich demokratisch ist, “jeder mündig gewordene Mensch dem anderen als ein gleicher im parlamentarischen Leben gegenübersteht“ entscheiden Majoritäten, „weil nur in diesem Glied des sozialen Organismus zur Entscheidung kommt, worüber jeder mündig gewordene Mensch kompetent ist.“ (GA 297a , S. 69, 37)

Dieses Modell soll den nationalen Einheitsstaat und seine Führungseliten ersetzen. Das wurde in den zeitgenösssischen Bemühungen des „Dreigliederungsbundes“ politisch aufgenommen – die Hitler als „Staatverbrechen“ ansah. Auch die Gründung von Waldorf-Schulen und des Demeter-Bundes stehen in diesem Zusammenhang. Im Zuge der 68-ziger Bewegung fand das Dreigliederungskonzept eine Wiederbelebung und wurde als „Dritter Weg“ zwischen westlichem Kapitalismus und östlichem Staatssozialismus vorgeschlagen. ("Achberger Kreis" / Joseph Beuys - der nicht nur sozial-politische Ideen Steiners aufnahm, sondern auch künstlerische) Die Änfänge der "Grünen" hängen mit dieser Bewegung zusammen.

Plakat des Achberger Kreises
 

Jedenfalls: die Anthroposophen derzeit in einigen medialen Veröffentlichungen nachgesagte Tendenz nach "Rechts" läßt sich nicht auf das von Steiners nach dem 1. Weltkrieg entwickelte sozial-politische Konzept zurückführen. Es knüpft deutlich an soziale und politische Ideale der Französischen Revolution an. Es ist also nicht nur "romantisches", sondern auch "aufklärerisches" Erbe bei Steiner zu finden.

steiner_soziale_frage

Steiner – Quelle von Verschwörungserzählungen?

Die aus der „Querdenken“- Bewegung hervorgegangene Partei „Basisdemokratische Partei Deutschlands“ vertritt die Dreigliederung.

In der Tat wirkt Steiners Konzept basisdemokratisch. Gegenüber der parlamentarische Demokratie seiner Zeit ist Steiner kritisch. Er sieht in ihr eine „Abstimmungsmaschinerie“, in denen Parlamentarier nicht unabhängig abstimmen, sondern an den Fäden der Finanz- und Wirtschaftswelt hängen. 

Diese ´Strukturen der Demokratie` seien so, „daß immer ein paar Menschen an den Drähten ziehen, die andern aber werden gezogen. Doch weil man ihnen immer vorredet, sie sind in der Demokratie drinnen, merken sie nicht, daß sie gezogen werden, daß da einzelne ziehen. Und um so besser können diese einzelnen ziehen, wenn die andern alle glauben, sie ziehen selbst…(GA 177, S. 65). Dem „Großkapitalismus“ sei es „gelungen…aus der Demokratie das wunderbarste, wirksamste, biegsamste Werkzeug zur Ausbeutung der Gesamtheit zu machen.“ (GA 177, S. 265) 

Da gelte es, „aufzuwachen“ und die Wirklichkeit zu sehen. Für Steiner stehen im Hintergrund nicht nur diesseitige Strippenzieher, sondern auch die schon erwähnten jenseitigen „dunklen Mächte“. Das alles „kann heute eigentlich im Grunde genommen nur der in die Geisteswissenschaft Eingeweihte wissen.“ (GA 177, S. 269) Wieder sehen wir: realistische Beobachtungen neben - für mich - abseitigen „Einsichten“. Der Weg zu heutigen „Verschwörungserzählungen“ ist nicht weit. Sind Anthroposophen doch dafür anfällig? 

Tatsächlich ist in der "orthodoxen" Richtung der Anthroposophie eine auffällige Rezeption von älteren und modernen Verschwörungserzählungen nachzuweisen, oft verbunden mit antjüdischen und rechtslastigen Tendenzen. Dies schon lange vor Corona. So sahen einige anthroposophische "Hardliner" in der historisch-kritischen Herausgabe der Steinerschen Schriften des Germanisten Christian Clement eine Verschwörung der Wesenheit "Ahriman" - für Steiner die dämonische Repräsentation des materialistischen Geistes - mit allerlei irdischen Handlangern zur Vernichtung der "Geisteswissenschaft". 

https://waldorfblog.wordpress.com/2014/01/20/europaer-vs-ska/

Durch das Corona-Geschehen haben Verschwörungs-Mutmaßungen auch in anthroposophischen Kreisen Auftrieb bekommen. Wieweit sie verbreitet sind, läßt sich nicht feststellen. Man sollte jedoch nicht übersehen, dass sich Anthroposophen auch gegen unbelegbare Verschwörungskonstrukte und Corona-Mythen positionieren.

https://info3-verlag.de/blog/die-offene-anthroposophie-und-ihre-gegner-eine-stellungnahme/

https://www.anthroposophische-gesellschaft.org/blog/corona-und-die-folgen

Steiner und seine Anhänger – Unterscheidung angebracht?

Anthroposophie ist nicht nur Steiner und  keine homogene Gemeinschaft oder Bewegung. Nicht alles, was Anthroposophen – gerade bei „Querdenken“ - vertreten, ist Steiner. Andererseits  findet vieles bei Steiner Anhalt, was bei „Querdenken“ vertreten wird – darunter manches in meinen Augen Problematische. So wie Steiners Konzept Ambivalenzen enthält, wird man auch ambivalente Wirkungen finden. Aber muß man ihn auf seine Wirkungen festlegen? Soll man nur auf die problematischen Seiten seines komplexen Gesamtkonzeptes starren? Ist nicht auch ein „freier“ und "aufgeklärter" Umgang mit seinem Werk denkbar? Sollte die "Deutungshoheit" über Steiner Anthroposophen allein überlassen werden?

Steiner ging es wie anderen geistigen Größen. Darf man ihm das, was Anhänger aus ihm machten und machen, zurechnen? Auch dann, wenn es nicht dem entspricht, was Steiner sagte und beabsichtigte? Auch dann, wenn die heutige Situation eine andere ist, als sie Steiner vor Augen hatte? Oft wird der historische Abstand vergessen, der uns von Steiner trennt. Auf jeden Fall lohnt es sich genau hinzuschauen, auf Steiner selbst und seine Anhänger – und zu unterscheiden. 

steiner_karikatur
Steiner als Heiliger: Karikatur im Simplicissimus. Steiner verstand es gut, sich selbst als außergewöhnliche Persönlichkeit zu inszenieren.
 

"Orthodoxie" und "Personenkult" bestimmen in nicht geringem Maße das Bild der Anthroposophie. Den Erklärungen Steiners nach lag dies nicht in seinen Absichten. Bei den vielbesuchten öffentlichen Vorträgen war „freie Aussprache“ möglich. Von den Zuhörern bei seinen Vorträgen verlangte er „eigenes Denken“. Dennoch erwartete er von den Teilnehmern seiner Vorträge vor der Anthroposophischen Gesellschaft, dass sie seinen Denkbahnen zustimmend folgten. Aus den Niederschriften und den darin erwähnten wenigen Fragen an ihn läßt sich kaum auf grundsätzliche Kritik schließen. 

"Der Mensch ... muss die Ideen seiner Zeit zu seinen eigenen machen" (Steiner, Einleitung zu Goethes "Naturwissenschaftlichen Schriften, S. 157)

Steiner hatte ein Gespür für den Zeitgeist. Bei allem Wandel und Eklektizismus seiner geistigen Positionen blieb er selbst ein eigenständiger Denker. Er nahm Zeitströmungen - wie die Lebensreformbewegung oder die "Theosophie" - auf seine Weise auf und machte sie sich zu eigen, ganz abgesehen davon, dass er auf einem Fundament der Beschäftigung mit vorhergehender deutscher Philosophie (Spinoza, Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Herbart, Schopenhauer) und Literatur (Wieland, Goethe, Schiller, Jung-Stilling, Jean Paul, Uhland) aufbaute.


 
Der jüngere Steiner setzte sich mit zeitgenössischer Literatur auseinander (als Mitherausgeber des "Magazins für Litteratur" / 1884-1900).
Es gibt viele Berührungspunkte zur Philosophie seiner Zeit (E. v. Hartmann, Nietzsche - den er als geistig Umnachteten erlebte, Stirner, F. Brentano u.a.), zum Neuhumanismus (Wilhelm von Humboldt, Ignaz Paul Vital Troxler) und zur Psychologie.  
Interessant sind die späteren Konvergenzen mit Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, obwohl Steiner sich zu dem ungefähr gleichaltrigen S. Freud und dem jüngeren C.G. Jung skeptisch äußerte. Mit Freud und Jung sieht Steiner auf seine Weise ein Schattenreich des Unbewußten, das nach Bewußtsein, Ichbildung und Selbstwerdung drängt. Auch im Verhältnis zur Psychoanalyse finden wir das Steinersche Prinzip: Anknüpfung und „geisteswissenschaftliche“ Vertiefung. 
 
Dazu: R. Steiner, Über die Psychoanalyse I, II, 1917, GA 178, SS. 13 ff.; Gerhard Wehr, C.G. Jung und Rudolf Steiner, 1982. 
 
Die anthroposophische Bewegung ist aus der Abspaltung von der 1875 gegründeten "Theosophischen Gesellschaft" entstanden. Mitbegründet wurde sie von der medial und schriftstellerisch tätigen Helena Petrowna Blavatsky. Diese spiritistisch, okkult und östlich geprägte "Theosophie" ist von der alten christlichen Theosophie, etwa eines Jakob Böhme, zu unterscheiden (Janzen, Okkultismus, SS. 129 ff). Im Verlaufe der Artikel in der von Steiner und seiner späteren Frau Marie von Sivers herausgegebenen Zeitschrift "Lucifer - Gnosis" (Lucifer in der christlichen Gnosis der Licht-, Erkenntnisbringer) grenzt er sich immer mehr von der "Theosophie" ab und entwickelt seine eigenen Anschauungen. In seinem unvollendeten Lebensrückblick "Mein Lebensgang" (GA 28) besteht Steiner darauf, dass er in der "Theosophischen Gesellschaft" von Anfang an seine anthroposophischen Ansätze zur Geltung gebracht habe:  
 
Aus dem hier Gegebenen, und nicht aus irgend etwas von der Theosophischen Gesellschaft Entlehntem erwächst die anthroposophische Bewegung." (Mein Lebensgang, S. 423)   
 
Eingeleitet wurde dies durch seine Hinwendung zur - eigenwillig interpretierten - christlichen Tradition.
Vom modischen Spiritismus und trivialen Okkultismus distanzierte sich Steiner, insbesondere nach der Abwendung von der Theosophie Blavatskys und Annie Besants: 
 
"Mein eigenes Forschen ging stets andere Wege als der Spiritismus in irgendeiner Form." (Mein Lebensgang, S. 292; auch: GA 243, SS. 150 ff.)
 

Es ist erstaunlich, mit wievielen Gebieten des geistigen und sozialen Lebens sich schon der junge Steiner beschäftigte. Gelehrsamkeit war für den jungen Aufsteiger ein Weg zur Anerkennung und Beachtung in der bürgerlichen Welt. 
In seinen Tätigkeiten beschränkte sich Steiner aber nicht nur auf bürgerliche Kreise. So unterichtete er 1901 als Lehrer an der Berliner Arbeiterbildungsschule, 1922 hielt er vor den Arbeitern beim Goetheanum-Umbau Vorträge, die aus Fragen hervorgingen. ( GA 347354)

Rudolf Steiner als Lehrer
an der Arbeiterbildungsschule Berlin, 1901 (Quelle: Screenshot GA 28, S. 374a)

Teilweise gehen seine „hellseherischen“ Einsichten gar nicht auf übersinnliche Einblicke zurück, sondern auf die Rezeption seiner Literaturquellen – wie Zander nachgewiesen hat. (Helmut Zander, Anthroposophie in Deutschland, Bd. 1,  Göttingen, 2007) 
Nicht wenige seiner Ideen gehen auf  alte Traditionen zurück. Steiners Schriften sind auf dem Hintergrund des Studiums  der Religionsgeschichte geschrieben worden (antike Mysterienreligionen, Mystik, esoterische Strömungen der Neuzeit).  Seine Wiedergabe entsprach allerdings nicht immer dem Stand der damaligen historischen Wissenschaften. Historische und philologische Genauigkeit sind seine Sache nicht. 
 
Schon bei der - grundsätzlich verdienstvollen - Herausgabe der "Naturwissenschaftlichen Schriften" Goethes hat man Steiner von germanistischer Seite Nachlässigkeiten vorgeworfen.
 
Ergänzend wird man aus psychologischer Sicht sagen können, dass Steiner anderes, inbesondere seine von ihm außerweltlich angesiedelte "Bilderwelt" (Engel, Geister, Elementarwesen) aus dem  archetypischen Bestand des Unbewußten geholt hat - wie bei "Medien" üblich. (Als "Medium" hat sich Steiner allerdings nicht verstanden.) Doch weder bei medialen Kundgabe noch bei Steiners "hellseherischen" Einblicken muss die psychologische Deutung das letzte Wort behalten. Parapsychologie verbleibt mit ihren historisch-kritischen, sozialwissenschaftlichen und psychologischen Erklärungmodellen des Paranormalen innerhalb der Grenzen des phänomenologisch oder empirisch Festellbaren, also innnerhalb der Immanenz und macht keine Aussagen über die Existenz "übersinnlicher" Mächte oder die Möglichkeit von Transzendenzerfahrungen. 
 
W. F. Bonin; Lexikon der Parapsychologie..., Frankfurt/M. 1981, Art. "Parapsychologie"; zu "Hellsehen": W. Janzen, Wahrsagen, Mainz/Stuttgart 1994
 
Man muss schon "Steiner-Gelehrter" sein, um sein umfangreiches Werk ganz zu überblicken (ich bin das nicht). Die aus dem Steiner-Archiv heraus gegebene Gesamtausgabe (GA) umfasst jetzt 354 Schriften und Vortragsreihen. Andererseits wiederholt und variiert Steiner immer wieder seine Aussagen in den verschiedenen Themenkomplexen seiner jeweiligen Denk- und Lebensphasen. Man muss nicht alles von ihm kennen, um einen ausreichenden Einblick in seinen Gedankenkosmos zu bekommen. Einen guten Zugang zu ihm eröffnet die Online-Enzyklopädie Anthrowiki mit Quellentextauszügen zu Stichworten, von denen aus dann die zitierten Schriften und Vorträgen gefunden werden können. Vielleicht sollte man Steiner ringförmig lesen, von Thema zu Thema, nicht linear, von Schrift zu Schrift.
 
Ein Nachwirken der vielseitigen Beschäftigungen und Bildung Steiners kann man durchaus im heutigen anthroposophischen Schrifttum finden, wobei zu überprüfen wäre, ob nicht auch hier eine Bevorzugung anthroposophienaher Themen und und Ausarbeitungen vorliegt. Ein Überblick über die Produktionen des anthroposophisch orientierten Verlagsverbundes "Freies Geistesleben/Urachhaus" scheint die zu bestätigen.
 
In jungen Jahren war Steiner ein ausgesprochen dialogischer Mensch, der Unterredungen mit seinen akademischen Lehrern führte, mit Freunden diskutierte und in Gesprächskreisen verkehrte. Auch später konnte er sich noch auf Fragen einlassen und sie diskursiv aufnehmen, etwa in seinen Vorträgen vor den Arbeitern des Goetheanums (1922- 1924). Insgesamt trat aber bei dem älteren Steiner das Dialogische gegenüber dem Lehren, dem Selbstbezug und dem Wahrheitssanspruch zurück. 
 
Auch hier mag es einen Nachhall bei Anthroposophen geben, die gern mit ihren Steiner-Exegesen unter sich bleiben und denen Fragen und Einwendungen von außen nicht so lieb sind. "Steiner hat ja schon alles gesagt ..." Aber da kann man auch andere Erfahrungen machen und eine solche "introvertierte" Orientierung findet sich in anderen vergleichbaren Kreisen ebenfalls.  
Bei den "Steinerianern" zeichnet sich ein Phänomen ab, das in der Religionsgeschichte und auch in der Gegenwart im Christentum und im Islam beobachtbar ist: es gibt eine "fundamentalistische" Richtung, die am Wortlaut der Quellen festhält und eine, die sich der "historisch-kritischen" Erforschung der überlieferten Grundlagen und ihrer zeitgemäßen Interpretation geöffnet hat.

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Steiners Handschrift in einem Brief (in dem es um Hilfe für ein Durchreisevisum geht)
 

Eine "revidierte" Anthroposophie?

Steiner – eine charismatische, komplexe, gefeierte, verehrte, aber auch irritierende und polarisierende Persönlichkeit; sein Gedankengebäude - vielseitig, mehrdeutig, nicht immer zusammenhängend und widerspruchsfrei, nicht leicht zu überschauen;  für die einen faszinierend, für andere finsterer „Okkultismus“. Fragen und Widerspruch, Fragwürdiges und Bedenkenswertes sind in seiner Person und seinem System angelegt.

Anthroposophie heute steht vor der Wahl, welche Elemente seiner Gedankenwelt  sie fortführen und in die heutige Zeit transformieren will und welche sie besser fallen lässt. Unzweifelhaft hat Steiner fragwürdige Strömungen seiner Zeit zumindest zeitweilig oder tendenziell geteilt. Es lassen sich aber auch andere Seiten bei ihm finden, die zu einer humanen Lebens- und Gesellschaftsgestaltung beitragen können, die sich nicht auf das Anerkannte und Vorgegebene beschränkt. Anzeichen für das Werden einer "revidierten" Anthroposophie mehren sich. 

"Revidiert" in Analogie zur schon längst "revidierten" Astrologie - Dazu: W. Janzen, Astrologie oder christlicher Glaube? In: H. Kochanek (Hg.), Horoskop als Schlüssel zum Ich, Hildesheim 1995, SS. 105 ff.

Um zur Anfangsfrage zurückzukehren: es scheint mir zweifelhaft, ob das wegweisend-kritisch-humane Potential Steiners bei "Querdenken" gut aufgenommen und aufgehoben ist.

steiner_grabmal
Steiners Grabmal über seiner Urne in Dornach mit dem Symbol und Motto der Rosenkreuzer (Anfangsbuchstaben):

"Ex deo nascimur - In Christo morimur - Per spiritum sanctum reviviscimus"

"Aus Gott sind wir geboren - In Christus sterben wir - Durch den Heiligen Geist werden wir auferstehen"
Steiner zu Lebzeiten: 
 
"Vom zwanzigsten Jahrhundert an werden alle Religionen im Rosenkreuzermysterium vereinigt sein" (GA 130 Seite 77)


Dieser Aufsatz ist in gekürzter Form im Online-Magazin „Telepolis“ am 06.01.2021 erschienen.





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